Caren. 12th Jul 2024
| | ReviewWas für ein entspannter Sonntag, ohne Murren & Drängeln steht die heute ungewöhnlich lange Schlange vor dem Schlachthof und wartet auf Einlass. SEASICK STEVE (75), hat erst mit 63 seine erste Platte gemacht.
Überpünktlich startet ein blutjunges Power-Duo aus Belgien, das es schon seit 10 Jahren gibt, obwohl die beiden Mitglieder erst Anfang 20 sind (!). BLACK BOX REVELATION spielen leidenschaftlichen dreckigen Rock mit Blues- und Indie-Elementen, und noise-lastigen Gitarrensoli. Sänger Jan (mit dem lustigen Nachnamen „Paternoster“) passt mit seiner recht knarzigen Stimme zum Schlagzeuger, der lustige Verrenkungen & Drumstickkapriolen macht. Die Band hat mich stellenweise ein wenig an BLACK REBEL MOTORCYCLE CLUB erinnert. Very nice.
Die sehr kurze Umbaupause liegt daran, dass alle Instrumente stehen bleiben und SEASICK STEVE später die Jungs von BLACK BOX REVELATION nochmals auf die Bühne holt, damit sie zu viert in die Saiten bzw Felle hauen können. Er weist Dan (seinen langhaarigen „Animal“-Drummer mit Sonnenbrille) an, ein kleines „play The Girl from Ipanema, or something“-Intermezzo am Schlagzeug zu spielen. Gesagt getan, Dan pluckert eine jazzige Pausenmelodei und schläft dabei langsam ein (wie Professor Hastig aus der Sesamstraße *g*), bis er über dem Schlagzeug hängt und vom Roadie wieder aufgerichtet werden muss. Steve kommt zurück mit frischem BLACK BOX REVELATION-Shirt und Strohhut, um die Band nochmals anzukündigen, die „momentan seine Lieblingsband“ sei. Spaßvögel sind sie allesamt, großartig unterhaltsam. Er erzählt Anekdoten zu Songs so persönlich, dass alles wahnsinnig sympathisch wirkt. Dazu scheint jedes Loch im Karohemd und jeder Flicken auf der dreckigen Jeans authentisch zu sein. Er hat so eine verständliche Sprache drauf, dabei die Lacher auf seiner Seite und spickt seine Geschichten mit witzigen Details, dass man es gar nicht alles wiedergeben kann, aber man als Zuschauer während des gesamten Auftritts den Bierbecher und das Dauergrinsen nicht mehr aus dem Gesicht bekommt. Ohne Mist. Angefangen mit dem 1. Lied allein & à capella (stehend), als er erzählt, dass er seit Bobby Kennedy’s Tod nie wieder zu einer Präsidentenwahl gegangen ist (und warum), bishin zu der Story über seinen Bruder, auf den er aus Übermut im Kindesalter geschossen hat, bevor er von zuhause abgehauen und jahrelang als Hobo und Straßenmusiker unterwegs war. Oder im Gefängnis. Ein Leben nach dem Motto „shit happens“, aber man kann ihm einfach nichts krumm nehmen. Der Blues dampft aus allen Poren seiner Tattoos, Drummer Dan haut mächtig rein (manchmal sind nur Haare & Bärte von hinten angestrahlt, treibende Footstomping Music und Rockiges mit viel Patina, ein paar typische ZZ TOP Riffs kann man auch nicht verleugnen. Desöfteren streicht er sich über seinen langen grauweißen Bart. Zu jedem seiner Songs gibt es (mindestens) eine andere Feedback-Gitarre (z.T. selbstgebaut aus Teilen, die halt so auf einer typischen US-White-Trash-Werkstadt auf dem Lande rumliegen) mit passender Story („Die hier hat seit Secondhand-Kauf nur 3 Saiten gehabt - an den falschen Stellen! Ich hab sie so gelassen, sie klingt einfach gut“ oder „Mein Sohn hat mit diesem Waschbrett gespielt und es ging kaputt, ich hab’s wieder gelötet, noch einen alten Banjo-Hals in der Scheune gehabt, ein Nummernschild sowie ein Türschnarnier hintendran gedängelt und das Ding hat nur 1 Saite. Ich muss einen Fingerhut dazu aufsetzen und ihn mit einem Pflaster festkleben („Moment!“, sonst kann’s für EUCH gefährlich werden, nicht für mich. . .“) Wenn’s mal im Verstärker brummt, wird vom Roadie nochmal die Klampfe ausgetauscht, er hat ja genügend dabei. „My guitars are somehow all fucked up“). Seinen Holzstuhl mit Kissen hat er gleich von seiner alten Veranda in den Tourbus geladen, damit er die meiste Zeit im Sitzen spielen kann. You can’t teach an old dog new tricks. Was er allerdings kann, ist charmant sein. Als der Part mit dem Liebeslied kommt, braucht er unbedingt ein Mädchen aus dem Publikum, das er auf der Bühne dabei "ansingen" kann. Er zeigt auf jemanden „Hm, ... you! Come up here!“ und lässt sich einen zweiten Hocker bringen. Nele, so heißt die junge Dame (Aussprache schwierig) ist das sichtlich peinlich, sie soll ihn „beim singen anzugucken“. Am Ende des Liedes bekommt sie ein Geschenk („Do you have a record player?“ – Nele verneint *g*) und er erklärt seine neue Doppel-LP, während er noch einen kleinen Liebesschwur auf die Hülle kritzelt. Berühmt zu sein findet er komisch - in einer englischen Show mit Liveauftritt schossen seine Facebook-Likes von 75 über Nacht in einen sechsstelligen Bereich! Also kann man getrost noch mit 66 Jahren einen „Breakthrough-Award“ annehmen. Also falls jemand noch mit dem Gitarrespielen anfangen möchte: feel free – it’s never too late. Was für ein netter Sonntagabend bei Onkel Steve & Co.
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